Ab Astana über Pawlodar und Semi zur Grenze nach Russland
Das glaube ich jetzt nicht, ich werde vom Plätschern des Regens auf der Blechabdeckung vor dem Fenster wach. Das muss nun wirklich nicht mehr sein. Als wir nach dem Frühstück aber abfahrtsbereit sind und das King Hotel Astana verlassen, hört es auf zu regnen. Aber da es die ganze Nacht wohl gut geregnet hat, streichen wir unseren Plan, auf der alten Strecke nach Pawlodar zu fahren. Das wird dann kein Spaß werden. Stattdessen verlassen wir die kasachische Hauptstadt auf der neuen Strecke und fahren im Prinzip fast die gesamten 480 Kilometer auf einer Baustelle in unterschiedlichen Fertigstellungszuständen. Ab dem Stadtrand ist es eine Betonautobahn mit je drei Spuren pro Richtung, nahezu ohne Verkehr, dann zwei Spuren pro Richtung, die sich dann auf je eine reduzieren. Mal ist sie auf unserer Seite, mal wird sie durch den Gegenverkehr geführt, dann geht sie übergangslos in eine Erdpiste über. „Fertigstellung Herbst 2017!“ verkündet ein großes Plakat. Da gibt es noch viel zu tun.
Nach einem Bogen in nordöstliche Richtung führt die Strecke von Astana durch die kasachische Steppe Richtung Osten. Seit wir das Massekabel der Batterie befestigt hatten, läuft Christinas GS 700 wieder völlig problemlos. Kaffeestopp und ein kleiner Imbiss kurz vor Ereymentau, dann geht es weiter. Wir stoppen an einem der großen muslimischen Friedhöfe, die immer weit außerhalb der Ortschaften liegen und sehen ihn uns genauer an. Von der Anlage sehr ausgedehnt, stehen die Grabanlagen, zumeist hoch gemauert, so eng beieinander, dass wir kaum dazwischen passen. Erstaunlicherweise wirkt das Innere der Grabanlagen nach unserem Verständnis ungepflegt, vernachlässigt.
Etliche Kilometer später passieren wir einen riesigen Kohletagebau. Über viele Kilometer fahren wir an der Grube lang und an den langen Förderbandanlagen. Dann fordert uns die noch nicht fertiggestellte Autobahn noch einmal richtig heraus. Immer neue Varianten, immer wieder neue Überraschungen. Pferdeherden an der Straße, in der Ferne die einzige Bahnlinie, Stromleitungen, die kreuz und quer durch die Ebenen führen.
Schließlich erreichen wir jenseits des Irtysch das gleichnamige Hotel in Pawlodar und werden mit einem klassischen Konzert willkommen geheißen. Eigentlich nicht für uns, sondern für eine große Hochzeitsfeier, nutzen wir die Gelegenheit zu einem kleinen Tänzchen. Und ein paar Blessuren an den Moppeds müssen repariert werden, bevor es zu einem leckeren Essen geht, in einem der besten Hotels der bisherigen Reise.
Draußen, am Platz nahe dem Fluss, geht noch lange in die Nacht hinein die Post ab. Nur wenige Abgetrunkene sind zu sehen – Kasachstan ist eben ein muslimisches Land. Am Morgen verlassen wir das wirklich ausgezeichnete Hotel Irtysch und fahren bei bestem Wetter zur Uferpromenade. Rasch kommen wir mit den Menschen dort ins Gespräch und werden aufgefordert, noch einen weiteren Tag zu bleiben. Heute sei der Tag des Metallurgen und am Abend würde eine große Party steigen. Aber unser Ziel ist ein anderes, Semei, bis 2007 Semipalatinsk. Hier fanden zwischen 1949 und 1989 über 400 über- und unterirdische Atombombenversuche statt. Auf Empfehlung nehmen wir die Strecke auf dem linken Flussufer, die deutlich besser als die rechte sein soll. Über weite Strecken stimmt das wohl auch mit Sicherheit, zumindest was wir für unsere Strecke beurteilen können.
Dann machen uns zahlreiche Jurten und Reiter etwas abseits der Straße neugierig und wir steuern darauf zu. Am improvisierten Parkplatz treffen wir auf Willi, wie sich uns ein Kasache vorstellt, der lange Jahre in Deutschland gelebt hat. Er freut sich riesig, uns als weitangereiste Gäste zu begrüßen und nutzt die Chance, uns seiner Familie und seinen Freunden vorzustellen. Wir erfahren ganz viel über sein Dorf, das Dorffest, die sportlichen und kulturellen Aktivitäten des Tages und werden genötigt, auch beim Essen und Trinken zuzulangen, die verschiedenen Spezialitäten zu probieren.
Gerne wären wir länger geblieben, lehnen auch den angebotenen Wodka dankend ab, da wir noch etliche Kilometer mit den Motorrädern vor uns haben. Wieder erweist sich die folgende Strecke als eine Spannbreite aller möglichen Straßenzustände. In der Ferne ist gelegentlich der Irtysch zu sehen. Da lockt doch mal ein Abstecher.
In der Ferne tauchen dann die Industrieanlagen von Semei auf. Neben dem amerikanischen Testgelände „Nevada National Security Site“ in Nevada war unweit der Stadt das größte atomare Testgelände der Welt. Im August 1991 erfolgte die Stilllegung. Infolge der Atomwaffentests kommt es – ähnlich wie in Nevada – noch heute zu unzähligen Fehlgeburten, Geburten mit körperlichen und geistigen Behinderungen und infolgedessen zu einer extrem hohen Selbstmordrate. 1997 wies die Hälfte aller in der Region geborenen Kinder Gesundheitsschäden auf, etliche davon sind körperlich, geistig oder mehrfach behindert. Aufgrund dieser historischen Begebenheit wurde am 8. September 2006 in der Stadt der Vertrag von Semei geschlossen, der Zentralasien zur atomwaffenfreien Zone erklärt. Und es wurde im Stadtrat die Umbenennung des negativ belegten Stadtnamens Semipalatinsk in Semei beschlossen. Ein eindrucksvoller Tag geht zu Ende.
Am nächsten Morgen fahren wir extra zeitig los, 100 km sind es bis zur Grenze. Ein letztes Tanken, einige interessante landschaftliche Eindrücke, dann der Grenzübergang. Bei den Kasachen stehen LKW und PKW in einer Schlange. Es hilft nichts, auch wir müssen uns am Ende der Schlange einreihen. Es geht und geht nicht voran. Horst sieht jemanden, der an einem Zaun schweißt und nutzt die Gelegenheit, seinem gebrochenen Gepäckträger schweißen zu lassen. Dann noch schnell unsere restlichen kasachischen Tenge in Rubel umzutauschen. Uns scheint, die Kasachen haben so richtig keine Lust. Doch dann geht es mit einem Mal zügig voran. Anschließend stehen wir vor der russischen Grenze und die Russen lassen niemanden rüber. Vielleicht Mittagspause oder Schichtwechsel. Mit einem Mal geht alles ganz schnell – und völlig entspannt. Zu unserer Verwunderung müssen wir gar keine Papiere ausfüllen. Und auch die Zollinspektion ist eher ein Witz. Dennoch dauert das Grenze über 4 Stunden plus eine Std. Zeitverschiebung. Dann sind wir im Altaier Kreis – in Russland und machen uns auf den Weg nach Barnaul.
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