13. Tag, Donnerstag, 30. Juli 2015: Rund um Newjansk und Jekaterinburg (200 km)
Bingi gibt gute Gelegenheit, russisches Dorfleben hautnah zu erfahren. Von Bingi aus machen wir eine Rundtour, die uns durchs Uralgebirge nach Jekaterinburg zum Zarendenkmal und nach Ganina Jama führt, dem Ort, an dem die Überreste des letzten russischen Zaren und seine Familie verbrannt und verscharrt wurden. Darüber hinaus erfahren und erleben wir einiges vom Leben in einem russischen Dorf.
Den heutigen Tag nutzen wir als Ruhetag mit unterschiedlichen Angeboten. Frühstück beginnt etwas später. Einige bleiben einfach in Bingi, den übrigen bieten wir einen Ausflug nach Ganina Jama und Jekaterinburg an. Keine 200 m gefahren, da bemerkt Egon, dass er seinen Fotoapparat vergessen hatte, mit dem er die Übergabe von 10.000 Hörgerätebatterien, 20 nagelneue Hörgeräte, viele Müsliriegel und Müsli-Packungen an die Schule für Hörbehinderte dokumentieren will. Also fahre ich zurück. Ich finde seinen Apparat nicht und gebe ihm meinen Zweitapparat. An der Tankstelle treffen wir die Gruppe nicht an. Wir reagieren verständnislos. Vereinbart war, dass an jeder Abbiegung jemand von den Teilnehmern automatisch stehen bleibt. Das System ist einfach, logisch und hilfreich. Man muss sich nur daran halten und es kann niemand verloren gehen. Telefonisch können wir sie auch nicht erreichen, denn das Telefonnetz funktioniert hier abseits der Hauptstraße nicht gut, gar nicht, bzw. die Angerufenen nehmen nicht ab. Es bleibt uns nur die Chance, nach Ganina Jama zu fahren und zu hoffen, dort auf die Gruppe zu treffen. Gut dass wir uns auch hier auskennen, denn dieser Ort ist nur 100 km entfernt. Wir treffen sie dort auch. Man hatte sich schon gewundert, wo wir blieben. In Ganina Jama hatte man die Zarenfamilie nach ihrer Ermordung in einem Stollen verscharrt. Heute ist das ein Wallfahrtsort und für jedes Mitglied der Zarenfamilie steht einen eigene Kirche. Fr den Zar ist es eine Kathedrale, nach einem Brand wieder neu errichtet.
Dann schicken wir drei auf Sondertour zu Harley Davidson. Steffen braucht für seine Road King einen neuen Hinterreifen, außerdem sind entsprechende T-Shirts auf der Wunschliste. Wir treffen sie am Abend in Bingi völlig begeistert wieder.
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Egon fährt mit Rainer zur Übergabe der Batterien zur Hörbehindertensule, weiter zu einem Rechtsanwalt, der seine Angelegenheiten nach Egons Unfall im Ural im vergangenen Jahr regelt. Dann geht es weiter zum Arzt. Rainer war vor 8 Tagen das Motorrad auf den Knöchel gefallen. Die Wunde heilt nicht, er hat permanent Schmerzen und der ganze Knöchelbereich ist dick und blau angelaufen. Die Poliklinik ist ein neues Gesundheitszentrum und heißt „DoctorPlus“. Um einen Arzt zu konsultieren, müssen sie zunächst 1200 Rubel bezahlen. Sie werden darauf hingewiesen, dass weitere Maßnahmen ebenfalls kostenpflichtig seien und im Voraus zu bezahlen sind. Die Ärztin befühlt den dicken Knöchel und entscheidet eine Röntgenaufnahme zu machen. Kostet 1800 Rubel. Danach ist der Nachweis erbracht worden, dass die Knochen in Ordnung sind. Nach weiteren 500 Rubeln geht ins Verbandszimmer. Die Wunden werden gesäubert und ein Verband angelegt. Neue, andere Medikamente werden verordnet. Die Ärztin macht uns Hoffnung, dass alles besser wird. Um 19.00 Uhr sind wir fertig und nach 20.00 Uhr sind sie zurück in Bingi.
Den provisorisch geflickten Ölschlauch der Guzzi wurde auf Wunsch des Besitzers nicht gewechselt. Obwohl wir aus der Distanz dafür gesorgt hatten, dass das Teil da sein sollte und die Biker auf uns gewartet haben, verzichtet er darauf. Hoffen wir, dass das Flicken bis zur Rückkehr hält, denn die Ersatzteilversorgung wird nicht besser.
Wir fahren auf einer schönen Straße zurück und stoppen noch auf einen Besuch im Militärmuseum. In Bingi verleben wir bei Olga, Stefan und Mischa noch einen wunderschönen Abend.
14. Tag, Freitag, 31. Juli 2015: Durch die Dörfer nach Irbit und Tjumen (420 km)
Tjumen ist die erste wichtige Stadt in Sibirien, die wir kennen lernen werden. Auf dem Weg fahren wir über Irbit und besuchen zwei unterschiedliche Orte der russischen Geschichte und Wirtschaft: das Ural-Motorradwerk in Irbit und das Ural-Motorradmuseum.
Wir müssen Bingi relativ zeitig verlassen, weil wir einen Besuchstermin im Ural-Motorradwerk zu um 12 Uhr bekommen haben. Sehr herzlicher Abschied von Stefan und Olga und natürlich auch von Mischa, dem guten Geist des Hauses. Stefan begleitet uns noch zur Tankstelle und dann zur Straße nach Irbit. Wir fahren Nebenstraßen. Auch bei uns in Deutschland ist es eine Herausforderung 400 km auf Nebenstraßen zu fahren, aber hier sind die Straßen zum Teil deutlich schlechter. Hier in Sibirien ist es normal. Frostaufbrüche, Bitumenpfusch, lange Wartungsintervalle, schlechter Untergrund – alles sind die Ursache dafür, dennoch sind wir zügig unterwegs. Es ist aber eine Herausforderung schnell zu fahren. Unvermittelt tauchen tiefe Bodenwellen oder Schlaglöcher auf, die die Stoßdämpfer bis über die Belastungsgrenze strapazieren. Und auch die Konzentration. Dann die ersten Kurven seit längerem. Und – einer der Teilnehmer fährt gerade aus. Zum Glück ist nichts passiert: „Da habe ich wohl einen Fahrfehler gemacht.“ Sibirien. Das ist kein Land, das wir hier erleben, das ist für Egon und mich inzwischen eine Lebenseinstellung. Vorbei die Hektik, vorbei der Stress, es ist nur der, den wir uns selber machen. Hier ticken die Uhren anders. In der Weite ist die Landschaft eindrucksvoll. Die große sibirische Tiefebene ist sehr fruchtbar. Die Böden sind braun bis tiefschwarz. Weizen, Roggen, Gerste und Hafer werden angebaut; dazu Mais und Kartoffeln. In der Nähe der Dörfer existieren riesige Kuhställe, mal eine industrielle Geflügelfarm. Wenn das Klima ein wenig besser und die Produktivität ein wenig höher wäre, könnte sich dieses Land sehr leicht selbst ernähren. Irbit ist das Zentrum der Motorradproduktion in der russischen Föderation. Die Isch-Werke in Ischwewsk sind 1990 geschlossen worden, damit ist Irbit der einzige noch existierende Motorradhersteller in Russland. Die Motorräder, die uns sonst auf der Straße begegnen, sind aus alter Produktion. Neue Modelle sind kleinere chinesische Motorräder oder eben welche aus westlichen Motorradwerken.
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Drei amerikanische Investoren haben in Irbit diese Traditionsstätte übernommen. Wenigstens unsere Teilnehmer wissen nach dem Besuch des Werkes und des Museums, dass die heutige „Ural“ mit der BMW R75 nicht vergleichbar ist. Dieses Märchen galt nur bis 1945! Danach begann die Blütezeit des Werkes. Über 3 Millionen Motorräder wurden hier produziert. Heute werden Kleinserien für den Weltmarkt als Retro-Modelle gefertigt. Stückzahlen von 300 im Monat gelten als viel. Eigentlich sind auch schon alle, die produziert werden, schon verkauft. Anschließend besuchen wir das Ural-Motorradmuseum. Slava begrüßt uns freudig und fürt uns herum. Anschließend kommt Alexander, der Direktor von einem Termin zurück. Ich überreiche ihm das Geschenk von Schuberth, einen neuen C3 Pro für das Museum. Ein sehr interessiertes Gespräch mit diesem Motorradprofi, der zwei Rekorde mit Uralgespannen im Guinnessbuch der Rekorde schließt sich an. Am frühen Abend erreichen wir Tjumen, eines der Zentren der Erdölproduktion, eine sehr moderne Stadt. Ein Teilnehmer stöhnt über die hohen Temperaturen, gegen 19.00 Uhr haben wir noch 29 ° C. Dazu konnte ich nur sagen: Alle erzählen mir zu Hause, dass es in Sibirien kalt ist. Ich sage dann immer, wenn 25 Grad für Euch kalt ist, dann kommt doch mit mir nach Sibirien!
Das Hotel ist einfach Luxus für uns. Es ist vollklimatisiert, man spricht englisch und auf dem Parkplatz befindet sich eine Waschanlage. Das Bier ist preiswert. Die Stadt feiert ihren Geburtstag und ist festlich geschmückt. Es ist Freitag und am Abend gibt es ein Feuerwerk. Was will man als Reisender mehr. Alles Wissenswerte über die Stadt habe ich im Roadbook zusammengestellt. Aber die meisten Teilnehmer verlassen sich auf ihre visuellen Eindrücke und sind geschafft von den heutigen 420 km. Morgen soll es anstrengender werde. Die Temperaturen werden eventuell genauso unerträglich sein, aber ab jetzt fahren wir auf der Magistrale mit viel Verkehr und Polizeikontrollen.
15. Tag, Sonnabend, 01. August 2015: Von Tjumen nach Omsk (610 km)
Heute müssen wir eine Stunde früher starten als sonst, nicht nur wegen der längeren Fahrstrecke, sondern vornehmlich wegen der Zeitverschiebung. Nach dem Frühstück fahren wir durch das Westsibirische Tiefland in östliche Richtung nach Omsk. Sümpfe und ausgedehnte Nadelwälder werden uns begleiten, aufgelockert durch große Grasflächen mit Birkenansammlungen.
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Russland ist 50mal größer als Deutschland. Wenn in Deutschland ein Bauernhof ca. 25 ha hat und ein Feld zwischen 0,5 bis 2 ha groß ist, so ist es hier in Sibirien 50mal größer. Damit sind auch viele Probleme 50mal größer. Deutsche hat es früher hier viele gegeben. Seit der großen Auswanderungswelle in den 90igern sind ganze Dörfer ausgestorben. Aber sind wiedergekommen, weil sie die Enge in Deutschland und die z.T. seelische Kälte nicht ausgehalten, was ich sehr gut verstehen kann. Aber auch die Willkommenskultur und die sozialen Kontakte entwickelten sich bei uns zu Hause nicht so wie erwartet. Die Straße ist in einem schlechten Zustand. Hinzu kommen die zahlreichen Baustellen. Glücklicherweise sind überwiegend LKW unterwegs, an denen wir vorbeiziehen. Trotzdem staut sich der Verkehr auf 1-2 km Länge vor jeder Ampel. Die E 22 zweigt von hier auf halber Strecke nach Kasachstan ab und mündet in Omsk in die AH 6, den Asiatischen Highway Nr. 6. Und dank der Modeerscheinung, Güter nicht mehr mit der Bahn zu befördern, reihen sich die Fahrzeuge auf wie an einer Perlenschnur. Hinzu kommt, dass viele LKW die direkte Ost-West Route von Moskau nach Sibirien meiden. Ein kleiner Teil führt nämlich durch Kasachstan. Früher als es die UDSSR gab, war es kein Problem, aber heute muss man trotz der Zollunion Gebühren bezahlen. Ausländer benötigen sogar ein Visum für die kurze Strecke von vielleicht 150 Km. Also fahren alle auf der E 22, die zuvor ein Feldweg war und quasi über Nacht zu einer wichtigen Verkehrsader umgebaut werden musste. Nur so erklären sich die vielen Baustellen. Ansonsten verläuft die Fahrt unspektakulär. Bis auf wenige Ausnehmen sind wir erstaunt über die Disziplin der PKW-Fahrer. Viele warten in der Schlange. Trotzdem gibt es einige, die immer noch schneller sein müssen und versuchen, über den Acker am Stau vorbeifahren. Die Temperaturen von 30 Grad machen die Fahrt nicht erholsam. Sehr freundlich werden wir an der Rezeption willkommen geheißen. Dann gehen wir zum Essen. Während wir essen, erhalten wir noch Besuch von Gouverneur des Kreises und müssen mit ihm einen Wodka trinken. Egon drücke ihm gegenüber unser Bedauern aus, dass wir für diese Millionenstadt so wenig Zeit haben. Er macht uns auf den deutschen Kreis Asowo aufmerksam, den wir unbedingt besuchen sollen. Aber es ist schon 23.00 Uhr und morgen ist Abfahrt um 6.00, denn die längste Etappe wird morgen gefahren.
16. Tag, Sonntag, 02. August 2015: Omsk – Novosibirsk (720 km)
Noch ein langer Tag zum Er-fahren von Landschaft, Weite und Entfernung. Nowosibirsk. Vertreter der Motorradgruppe „Weiße Wölfe“ werden uns am Stadtrand begrüßen und durch Nowosibirsk begleiten.
Sonnenblumenfelder! Unter anderen Umständen ein untrügliches Zeichen dafür, dass jetzt der Urlaub beginnt. Abfahrt ist bereits 6.00 Uhr. Vor uns liegt die längste Etappe mit 720 km. Erfahrungsgemäß geht hier eine Maschine zu Bruch. Wir haben eine über 30 Jahre alte Honda dabei, eine Güllepumpe und eine ebenso alte BMW. Der Verkehrt ist ruhig an diesem Sonntagmorgen und für einige Teilnehmer ist es eine ganz neue Erfahrung, in den Sonnenaufgang hineinzufahren. Obwohl es Anfang August ist, hat die Getreideernte noch nicht begonnen. Die riesigen Getreidefelder sind noch grün und beginnen sich erst langsam zu verfärben. Egon wird von Bulgaren angehalten, die eine Autopanne haben. Als Dank für seine Hilfe bieten Sie ihm einen echten goldenen Ring an, denn sie haben kein Geld. Irgendwie müssen sie immer dann hier sein, wenn wir hier lang fahren. Vor 3 Jahren waren sie auch hier!
Hier in der Nähe liegt der deutsche Kreis Asowo. Herr Jelzin und auch Herr Putin hatte den Deutschen Autonomie in einem Bezirk zugesichert. Geblieben davon ist ein kleiner Kreis, denn viele sind nach Deutschland gegangen. Die Russen verstehen solche Autonomiebewegungen nicht. Die Durchschnittsbürger sind der Meinung, dass die Leute doch gehen sollen, wenn sie sich nicht in das bestehende System integrieren wollen. Es ist eine seltsame Radikalisierung, die politisch nicht bekämpft wird.
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Ab der Hälfte der Strecke wird es monotoner. Der Asian Highway Nr. 6 ist gut ausgebaut, aber die Landschaft ist nur flach und besteht ausschließlich aus Sumpfland. Vereinzelte Baumgruppen, überwiegend Birken, und saure Wiesen beherrschen das Bild.
Pünktlich um 16.00 treffen wir an der Stadtgrenze ein. Der Regen, der uns in der letzten Stunde begleitete, hört ein auf. Sofort steigen auch die Temperaturen von ca. 16° C auf über 20 Grad. Sergej von den „Weißen Wölfen“ empfängt uns. Natürlich ist das Kamerateam des örtlichen Fernsehens auch dabei. Wir machen mit einem Pulk von 20 Motorrädern eine Stadtrundfahrt. Es geht ziemlich zügig los. Die Jungs wollen uns zeigen, dass sie Motorradfahren können. Ich nehme Geschwindigkeit heraus, will ich doch alle heil weiter und auch noch nach Hause bringen. Am Denkmal für die Gefallenen des 2. Weltkrieges halten wir. Zu dritt legen wir Blumen nieder, die Egon unterwegs am Straßenrand gepflückt und mit einem blauen Band versehen hatte. Zur Feier zieht er sich sogar seine Kutte an. Das Fernsehteam macht Aufnahmen, wie wir zu dritt, Egon, Sergej ,der Chef des Clubs und ich, Blumen niederlegen und uns anschließend die Hand geben. Das kommt bei den Zuschauern gut an. Sehr gut! Über die neue brücke geht unsere Rundfahrt weiter. Wir stoppen noch am Bolschoitheater, dem besten Sibiriens und erreichen kurze Zeit später unser Hotel, das Nowosibirsk gegenüber des Bahnhofs. Von einer Vertreterin des Hotels werden wir mit freundlichen Worten und einem großen Kuchen für uns willkommen geheißen. Nach dem Abendessen und einer Abschiedsrunde ziehen sich die meisten rasch zur Nacht zurück. Mal sehen, was morgen wird.